Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
Die Boxerzeit war der Anfang des Neuen in China. In einem heftigen Fieberparoxismus war die chinesische Reaktion zusammengebrochen. Gegen die europäischen Kanonen halfen keine geheimen Waffensegen. Das war vor aller Augen sichtbar geworden. Nun kam der große Umschwung. Die Kaiserin-Witwe Zixi kam aus ihrer Zuflucht im fernen Westen wieder nach ihrer Hauptstadt Peking zurück. Es war ein Triumphzug. Die Damen der Gesandtschaften hatten es sich nicht nehmen lassen, das Schauspiel mit anzusehen. Noch vor kurzem gehasst als schlimmster aller Teufel, der die Europäer ausrotten wollte, wurde sie nun zum Gegenstand der allgemeinen Neugier. Auf dem Qianmen, dem großen Südtor der inneren Kaiserstadt Peking, standen die Damen versammelt, als die alte Frau die meilenlange, kerzengerade Südstraße der äußeren Chinesenstadt in ihrer gelben Sänfte in kaiserlichem Pomp herangetragen wurde. Sie wurde nicht einmal böse über diesen Verstoß gegen die altheiligen Gesetze, die vorschrieben, dass alles Volk sich in den Häusern verbergen musste, wenn die Sänfte des Herrschers durch die Straßen getragen wurde. Sie brachte ihre Opfer dar in den beiden kleinen roten Tempelchen mit den gelbglasierten Dächern, die das Südtor flankieren, von denen das eine der Guanyin, der Mutter der Barmherzigkeit, und das andere dem Schutzgenius der Dynastie, Guandi, geweiht ist. Ja, sie winkte freundlich nach oben, als sie die fremde Versammlung dort sah, und die Gesandtschaftsdamen winkten begeistert mit den Taschentüchern.
Aber die alte Herrscherin hatte aus den Erlebnissen gelernt. Sie, die früher der Schrecken auch der mächtigsten Satrapen gewesen war, von denen keiner ohne Zittern vor dem Throne kniete, gefiel sich nun in der Rolle der gütigen Mutter. Der alte Bodhisatva Guanyin wurde sie genannt. Sie trug bei einem Hoffest die Gewänder der Gottheit Guanyin, die ihrem Herzen so nahe stand, und ließ sich auch so mit ihren Hofdamen und ihrem Lieblingseunuchen photographieren. Miss Carl, die amerikanische Malerin, die noch jetzt die Gesellschaft Peking^ ziert, wurde berufen, ein Ölgemälde von der betagten neuer Heiligen anzufertigen. Die ganze Zeit über wurde ihr ein Schloss in einem prächtigen Park angewiesen mit Hunderter von Dienern in der Nähe des Altersaufenthaltes der Herrin, des Sommerpalastes Yiheyuan (Park der öffentlichen Ruhe), den wegen des fatalen Anklangs an die Boxerzeit nun Wanshoushan (Berg der zehntausendjährigen Lebensdauer) genannt wurde. Für die fremden Damen wurden Teegesellschafter veranstaltet. Ferne lagen die Zeiten, in den darum gekämpft wurde, ob die fremden Barbaren von der Kniebeugung, mit dei| jeder Chinese seinen Herrscher ehrte, befreit werden könnte in Anbetracht ihrer verstockten Unwissenheit, oder ob diel geheiligten Formen des Altertums auch von den Fremden zu wahren seien. Jetzt konnten alle kommen, groß und klein, alt und jung. Lächelnd übersah die gütige Mutter die Unzulänglichkeiten ihrer fremden Gäste in Beziehung auf Ordnung und Sitte, und diese waren für ihr Leben lang beglückt, wenn sie die goldenen Schutzhülsen der prächtigen langen Fingernägel der zierlichen Frauenhand küssen durften, deren Wink schon so vielen Hunderten den Kopf gekostet hatte.
Aber die Fürstin ließ es nicht bei Äußerlichkeiten bewenden. Sie nahm die Reform, die sie so heiß bekämpft hatte, nun selber in die Hand.
Der Übergang Chinas aus der alten in die neue Zeit vollzog sich in mehreren Stufen, die sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hin erstreckten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Kriegeradel der Mandschus, der bis dahin an den entscheidenden Stellen des Reichs gesessen hatte, seine alte Kraft und Ursprünglichkeit verloren. Er war versunken in den Genuss der Macht und üppiges Wohlleben, wie das gegen Ende der verschiedenen Herrschergeschlechter in China zu geschehen pflegt. Im Süden, in Kanton, war ein durchgefallener Examenskandidat, der viel mit christlichen Missionaren verkehrt hatte, aufgetreten, um das Reich des großen Friedens zu begründen. Gleichzeitig mit der Änderung der Dynastie sollte eine Änderung der Religion erfolgen; das Christentum sollte von nun an über China herrschen. Er hatte himmlische Offenbarungen und wusste, dass er der jüngere Bruder Christi sei. Wie ein Sturmwind fegte der Aufruhr durch die morschen Wälder. In einem immer mehr durch Raub und Verwüstung gezeichneten Siegeszug durchtobte er das Land. Die südliche Hauptstadt, Nanking, fiel in die Hände der Aufständischen, die dort die Hauptstadt ihres neuen Reichs Taiping, des großen Friedens, einrichteten. Der Mandschu-Adel hatte vollständig den Kopf verloren und stand wehrlos diesem Ungewitter gegenüber. Und als sei die Natur selbst gegen das Herrscherhaus, so trat die Sorge Chinas, der Gelbe Fluss, aus seinen Ufern und überschwemmte einmal wieder die weite Tiefebene, die sich um die Halbinsel Shandong im Westen herumlegt. Jahrelang dauerte es, bis die Wasser sich verlaufen hatten. Da ward auch das Bett des großen Flusses trocken, und erst allmählich gelang es, ihn in dem stark angeschwollenen Dajinhe wiederzuerkennen. Während er früher südlich der Halbinsel Shandong ins Gelbe Meer sich ergossen hatte, fließt er nun seit siebzig Jahren nördlich davon in den Golf von Zhili. - Es ist eine Umwälzung, wie wenn etwa die Elbe von da ab, wo sie aus Böhmen nach Deutschland eintritt, die ganze norddeutsche Tiefebene überschwemmen und dann nachher im Bett der Memel sich ins Kurische Haff ergießen würde. Das Herrscherhaus schien vor dem Ende zu stehen.
Da erhob sich ein Retter aus der Klasse der Literaten: Zeng Guofan. Er erzählt, wie sie ihre langen Literatengewänder ausgezogen und Kriegerkleidung angelegt. »Ich ließ durch unsere jungen Gelehrten die Bauern befehligen, um den Frieden des Reichs herzustellen«, sagt er einmal. So gelang es, des Aufstandes Herr zu werden, und außer ihm noch and gefährliche Bewegungen niederzuwerfen, die im Nord Westen und Süden sich erhoben hatten. Bekanntlich waren bei der Niederwerfung dieses Aufstandes auch einige europäisch und amerikanische Bandenführer in chinesischen Dienste tätig, über die der edle Gordon sowohl an Tüchtigkeit als auch an Charakter weit hervorragte. Die Taiping-Rebellen wurden von Position zu Position zurückgetrieben. Schließlich waren sie in Nanking eingeschlossen, und es entspann sich nun das Schauspiel eines ausgehungerten religiösen Fanatismus, das in allen Stücken auf das merkwürdigste an das Los der Wiedertäufer in Münster erinnert.
Nun galt es, einmal die Trümmer des Reichs neu zu organisieren und andererseits Mittel und Wege zu finden zur Anpassung der chinesischen Welt an die neue Zeit und ihre Anforderungen. Das erste gelang mit bewundernswürdiger Schnelligkeit. Als die chinesischen Literaten in die Bresche getreten waren, taten sie es keineswegs aus sklavischer Unterwürfigkeit unter das landesfremde Geschlecht der Mandschus. Sie taten es, weil die Herrscher dieses Geschlechts sich mit der alten chinesischen Kultur identifiziert hatten. Man findet in der chinesischen Geschichte wenige Herrscher, die so groß und rein die wesentlichen Ideen des Konfuzianismus vertreten haben, wie z. B. der Mandschuherrscher, der unter der Devise Kangxi von 1662 bis 1723 das Reich regierte. Dass die Mandschus von diesen Grundsätzen einer hohen und strengen Staatsmoral abgewichen waren, hatte zum Zusammenbruch geführt. Nun galt es, das Reich nach diesen Grundsätzen neu zu organisieren. So ging der wesentliche Einfluss aus den Händen der vornehmen Mandschugeschlechter auf die Klasse der chinesischen Gelehrten über, die in Zeng Guofan ihr geistiges Haupt verehrten. Die Größe der Kaiserin-Witwe war es, dass sie diese Bewegung stützte und förderte. Zeng Guofan hat in Zuo Zongtang, Li Hongzhang u. a. Gehilfen, die mit bemerkenswerter Fähigkeit die schwere Aufgabe der Reorganisation des Reichs durchführten. Damals sind Dinge erreicht, die in der ganzen vieltausendjährigen Geschichte des Reichs vergebens erstrebt worden waren. Durch das Wirken dieser Männer ist die Gefahr der Mohammedaneraufstände, die zu verschiedenen Malen den Bestand des Reichs bedrohten, endgültig beseitigt worden. Das große und zukunftsreiche Gebiet Chinesisch-Turkestan kam unter dem Titel Xinjiang (das neue Gebiet) unter die unmittelbare Verwaltung der Zentralregierung. Die Ureinwohner im Süden wurden endgültig zur Ruhe gebracht. Eine Zeit des inneren Friedens folgte, während der die Bevölkerung des chinesischen Reiches nach den besten zugänglichen Quellen auf eine bisher ungeahnte Höhe stieg.
Man darf diese positiven Seiten nicht vergessen, wenn man sich von dem China des 19. Jahrhunderts, das den Europäern gegenüber immer wieder versagte, ein richtiges Bild machen will.
Die andere Aufgabe freilich, vor die die chinesische Regierung gestellt war, misslang. Zeng Guofan lebte in den konfuzianischen Vorstellungen des chinesischen Mittelalters. Für ihn und die Seinen waren die westlichen Ideen, die im Taiping-Aufstand so unerwünschte Früchte gezeitigt hatten, etwas zu Meidendes. So fand er kein Verhältnis zu diesen Problemen. Li Hongzhang, der ihm als Senior der Gelehrten folgte, hatte lässlichere Anschauungen. Er hatte schon während der Taiping-Rebellion Europäer kennen gelernt, schätzte sie aber nicht hoch. Die Söldner waren geldgierig und roh gewesen. Der einzige, der moralisch ganz auf der Höhe stand, war Gordon. Aber der schien ihm andererseits zu doktrinär, indem er kategorisch verlangt hatte, dass man auch einem Rebellen gegenüber unbedingt sein Wort halten müsse. Li Hongzhang war in diesen Dingen eher ein Renaissancemensch und hatte die gefangenen Rebellen, die Gordons Ehrenwort hatten, ohne Zögern hinrichten lassen. Alles in allem war er der Meinung, dass das Problem der Anpassung an den Westen leicht zu lösen sei. Die europäischen Waffen hatten in den Kriegen der Westmächte gegen China und im Taiping-Aufstand ihre Überlegenheit gezeigt; es handelte sich also nur darum, europäisch Waffen einzuführen, um die Bedürfnisse der Regierung decken. Es kam die Zeit der großen Waffenankäufe Chinas und der Anstellung fremder Militärinstruktoren, von denen mancher, wie z. B. Faltenhayn, sich später einen Namen gemacht hat. In jener Zeit wurde die Marineschule in Fuzhou und das Arsenal in Shanghai"" gegründet. Damals wurden von seilen des Shanghaier Arsenals auch die ersten Bücher über westliche Wissenschaften ins Chinesische übersetzt. Diese Übersetzungen lassen freilich sehr viel zu wünschen übrig, ganz ähnlich wie die ersten Übersetzungen von Missionaren, aber sie waren wenigstens ein - wenn auch zunächst noch recht wenig beachteter - Anfang einer Umgestaltung des chinesischen Geisteslebens.
Dann kam der japanische Krieg, durch den klar erwiesen wurde, dass die Waffen allein nicht ausreichen, sondern dass hinter den Waffen der entsprechende Geist stehen müsse. So begann denn nach Li Hongzhangs Niederlage die zweite Periode in der Umgestaltung der chinesischen Kultur. Diese Periode zeigt bedeutende Schwankungen, und von den Führern der Bewegung sind manche später wieder in andere Richtungen übergegangen oder wurden in der Welt zerstreut.
Während dieser zweiten Periode lag ein Mittelpunkt der Reform am Yangtse in der alten Stadt Wuchang, die mit Hahnkuh und Hanyang zusammen die große Millionenstadt Chinas bildet. Hier saß der Generalgouverneur Zhang Zhidong vielleicht neben Li Hongzhang der bedeutendste der alten chinesischen Beamten. Aber während Li Hongzhang mehr ein Mann der Praxis war, der weniger Wert auf Feinheit und Schönheit legte als auf das, was von unmittelbarem Nutzen (* Die einzige wirkliche Erziehungsanstalt, die auf Anregung des mandschurischen Ministers Wen Kiang in Peking begründet wurde, das Tongwenguan ging unter der Leitung des von Sir Robert Hart empfohlenen Dr. Martin bald von der beabsichtigten Höhe herunter. Ebenso fanden die darna s Ausland geschickten Studenten später keine Verwendung.) war, lebte in Zhang Zhidong der Geist des mittelalterlichen Konfuzianismus mit seinem Bedürfnis nach Feinheit und Form.
Darum war die Reformbewegung, die von Zhang Zhidong ausging, ganz anderer Art. Erst gehörte er zu einer reaktionären Bewegung, der sogenannten Qingliutang, die den alten chinesischen Geist gegen die neue Zeit verteidigen wollte. Gu Hongming, der lange Jahre Sekretär bei Zhang Zhidong war und trotz seiner europäischen Erziehung sich durch fanatische Anhänglichkeit an das Alte und grimmige Feindschaft gegen alles Fremde auszeichnet, erzählt von dieser Bewegung, die er mit der Oxford-Bewegung in England vergleicht. Er überschätzt ihre Bedeutung. Eine Handvoll literarischer Ideologen suchte eine Reaktion in die Wege zu leiten, ohne der Sache gewachsen zu sein. Die ganze Bewegung scheiterte kläglich und bedeutet kaum eine Episode in der Geschichte der chinesischen Reformen.
Zhang Zhidong wandte sich denn auch rechtzeitig von diesen Versuchen ab und wandte sich den jungen aufstrebenden Kantonesen Kang Youwei, Liang Qichao u. a. zu, die, ohne selbst im Westen gewesen zu sein oder eine europäische Sprache zu sprechen, dennoch davon durchdrungen waren, dass ein Geist strenger Kritik die eigene Kultur zu prüfen habe und dass unter allen Umständen eine Europäisierung der ganzen Gesetze und der Staatsverwaltung notwendig sei. Durch seine Empfehlung erlangten die jungen Reformer das Ohr des Kaisers Guangxu, der seit 1889 die Zügel der Regierung in der Hand hatte und seit kurzem sich auch von dem moralischen Einfluss seiner Tante, der Kaiserin-Witwe Zixi, loszumachen im Begriff war. Und nun beginnt, nachdem das alte System Li Hongzhangs zusammengebrochen war, die Reformära von 1898. Edikt folgte auf Edikt. Die alten Prüfungen, die seit Jahrtausenden das Sieb waren, durch das die Beamten aus der Masse der Bevölkerung herausgesiebt worden waren, wurden abgeschafft. Schulen nach westlichem Muster sollten allenthalben gegründet, das ganze Staatswesen sollte nach westlichem Muster reformiert werden. Eine allgemeine Bestürzung war die Folge.
Zhang Zhidong war in der größten Verlegenheit. Er schrieb die berühmte Abhandlung über die Notwendigkeit des Lernens. Hier suchte er ein Kompromiss zwischen dem Alten und dem Neuen. Die altheiligen Lehren des Konfuzianismus sollten nach wie vor das unverbrüchliche Heiligtum der Seele bleiben. Hier sollte kein Geist der Kritik, kein Utilitarismus und Positivismus Eingang finden. Aber in einer Welt der Hässlichkeit, da die Gemeinheit mit Macht verbunden war, sei es nötig, dass man die Methoden, die Macht verliehen, sich aneigne, um staatlich seinen Platz auf Erden zu wahren. Im Zentrum konfuzianisch und moralisch, im Äußeren europäisch und mächtig, das war die Auskunft, die der greise Gelehrte in seiner Verlegenheit fand.
Von anderer Seite kam eine andere Gegenwirkung. Der junge Monarch hatte sich von der Last der auf ihn drückenden Tante befreien wollen. Er hatte Yuan Shikai dazu ausersehen, im Schutz tiefsten Geheimnisses, die Kaiserin-Witwe und ihren Anhang beiseite zu bringen. Er hatte nicht in Rechnung gezogen, dass Yuan Shikai zu dem Vertrauten der Kaiserin-Witwe, Yongle, im Verhältnis der Wahlverwandtschaft stand. So verriet denn Yuan Shikai den ganzen Anschlag. Die alte Kaiserin wurde rasend. Die Reformer mussten schleunigst die Hauptstadt verlassen, und wer nicht floh, war des Todes. - Die Reformära war außenpolitisch nicht glücklich gewesen. Stück für Stück, von Jiaozhou bis Guangzhouwan, von Port Arthur bis Kowloong war eine ganze Anzahl der wichtigsten Hafenplätze von China losgerissen worden, und noch war kein Ende abzusehen. So war es denn kein Wunder, dass die Kaiserin-Witwe die volle Sympathie der einheimischen Bevölkerung für sich hatte, als sie mit starker Hand das Rad wieder rückwärts wandte. Das war die Stimmung gewesen, aus der der Boxeraufstand hervorwuchs.
Wie schon erwähnt, begann mit dem Zusammenbruch dieses letzten Versuches der Reaktion eine neue Periode der Reformen, oder genauer gesagt, eine neue Etappe der schon gekennzeichneten zweiten Periode. Denn es waren keine neuen Gedanken grundlegender Art, die aufgekommen wären. Das einzige Prinzip war, dass ein langsames Tempo der Reformen eingeschlagen werden sollte. Es wurden Termine festgesetzt, innerhalb derer die einzelnen Reformen vorgenommen werden sollten, so dass dann nach einer Reihe von Jahren aus dem antiken chinesischen Staat eine moderne konstitutionelle Monarchie geworden wäre.
In Wirklichkeit hat ja die Bewegung einen wesentlich anderen Ausgang genommen. Um den Verlauf der Dinge zu verstehen, müssen wir uns über das politische Kräfteverhältnis in China klar werden. Seit langer Zeit schon gruppierte sich die chinesische Politik um drei Zentren. Einmal ist von Bedeutung der Norden. Dort liegt Peking am Rand der großen, fruchtbaren, hauptsächlich weizentragenden Ebene, die das Flussgebiet des Gelben Flusses ist. Hier ist der Sitz der ältesten chinesischen Kultur. Ein nüchterner, strenger, starker Geist herrscht hier. Der Konfuzianismus in seiner ernsten Einfachheit gibt dem Ganzen das Gepräge. Dieses Zentrum gewann naturgemäß an Einfluss, seit die Mandschus China beherrschten, da sie ja auch aus dem Norden stammten und in gewissen Zügen eine Verwandtschaft mit diesem Charakter zeigten. Als mächtigster Mann im Norden stand in dieser Zeit Yuan Shikai da. Er hatte in entscheidender Stunde die Kaiserin-Witwe gerettet. Während der Boxerzeit war er allerdings in Shandong neutral geblieben. Aber diese Haltung hatte sich durch die Verhältnisse später gerechtfertigt. So war es denn nur natürlich, dass er in der neuen Ära an Einfluss gewann, wenn auch die Kaiserin-Witwe ihm vielleicht doch nicht ganz traute, worauf manches in den späteren Jahren hinweist. Seine Politik war nach einfachen Gesichtspunkten gestaltet. Für ihn kam in erster Linie die Konzentration einer entsprechenden Macht in Frage. So waren seine Reformen denn hauptsächlich darauf gerichtet, ein gut geschultes, diszipliniertes Heer zur Verfügung zu haben. Um die Mittel hierfür zu schaffen, war er bestrebt, Handelsunternehmungen und industrielle Anlagen, Bergbau, Hüttenwesen usw. zu fördern. Man kann wohl sagen, dass er in Nordchina in dieser Hinsicht entschieden Bedeutendes geleistet hat.
Was das Gebiet der Kultur und Erziehung anlangt, so geschah unter ihm, was vorgesehen war in dem allgemeinen Reformplan, ohne dass er ein besonderes Interesse für diese Dinge an den Tag gelegt hätte. Wodurch Yuan Shikai mächtig war, das waren die Beziehungen, die er überallhin anzuknüpfen wusste. Er hatte durch seine zahlreichen Nachkommen Familienbeziehungen zu fast allen bedeutenden und mächtigen Familien. Auch sonst ging das System seiner Freundschaften sehr weit. Und zwar war es immer das persönliche Interesse, durch das er die Leute an sich zu fesseln verstand. Durch diese gut auserwählte Anhängerschaft war es ihm denn auch stets möglich, seine Ansichten von anderen aussprechen zu lassen und scheinbar widerwillig sich zu dem nötigen zu lassen, was er von Anfang an bezweckte.
Ein anderes Zentrum des politischen Einflusses lag am Yangtse. Hier saß in Wuchang Zhang Zhidong, der von Kanton aus dorthin versetzt war. In Nanking saß Liu Qunyi, der sich in entscheidenden Momenten seiner Politik anschloss. Zhang Zhidong stammte aus der Nähe von Tianjin, aber in seiner Politik verfolgte er wesentlich andere Linien als der Realpolitiker Yuan Shikai . Sein Hauptinteresse war das konfuzianisch Literarische. Er war keine ganz einheitliche Natur, die bis in die letzten Gründe der Realität hinabreichte. »Tigerkopf und Schlangenschwanz« war eine Bezeichnung, die unter den Gelehrten über ihn im Schwange ging. Auch er hat industrielle Unternehmungen großen Stils ins Leben gerufen. Er hat auch eine Mustertruppe ausgebildet. Aber sein Hauptinteresse galt den Fragen der Bildung. Er war überzeugt, dass eine Modernisierung der chinesischen Erziehung notwendig sei. Er ist es schließlich gewesen, der, als er in seinem Alter nach Peking berufen worden war, die Einrichtung der Deutsch-Chinesischen Hochschule mit dem von deutscher Seite abgeordneten Professor O. Franke zustande brachte. Aber diese Reformen waren nur die eine Seite seiner Ziele. Worauf es ihm vor allem anderen ankam, war, dass unter dieser modernen Schale der alte konfuzianische Geist gewahrt werden sollte. So hat er in Wuchang eine große klassische Akademie gegründet, die seine Lieblingseinrichtung war, und von der noch jetzt malerische Ruinen inmitten eines Teichs in Wuchang die Revolution überdauert haben. Freilich, der alte Glanz ist dahin. Die Truppen, die darin nach der Revolution gehaust haben, haben die Spuren ihrer Rücksichtslosigkeit in den einst so schönen und malerischen Gebäuden hinterlassen.
Zhang Zhidong war ein Mann des Kompromisses. Er war freilich von weit stärkerem Kaliber als sein langjähriger Sekretär Gu Hongming, den er trotz dessen fanatischer Fremdenfeindlichkeit lange duldete, ohne ihm jedoch Einfluss auf die Geschäfte zu gestatten. Aber weil er nicht ganz tief und original war, ist er schließlich doch gescheitert. Immerhin sind der Klang seines Namens und die Überreste seines Werkes in Wuchang, wo jetzt ein Militärgouverneur herrscht, noch auffallend lebendig.
Welch seltsames Gemisch von Geschmack in chinesischen Dingen und absoluter Richtungslosigkeit in europäischen Dingen unmittelbar zusammenstehen konnte, davon kann man gerade in Wuchang noch manches Beispiel sehen. Wuchang ist einer der Orte mit großer historischer Vergangenheit. Der Roman von den drei Reichen hat einen seiner Schauplätze in jener Gegend. Dort in der Nähe ist die rote Wand, eine Felswand, die jäh in den Fluss abstürzt und die der Sage nach rot gebrannt wurde von dem Feuer, in dem eine große Flotte eines der streitenden Reiche zugrunde ging, die in der chinesischen Poesie durch die Jahrhunderte hin ihre Schatten wirft. In Wuchang stand auf einer Höhe über dem majestätisch sich ausbreitenden Strom der Turm der gelben Kraniche, ein Gebäude, das die schönste Aussicht stromauf und stromab bot und das selbst als Wahrzeichen der Stadt in seiner architektonischen Schönheit zu den berühmten Orten Chinas gehörte. Wie so manches berühmte Gebäude brannte es vor einigen Jahrzehnten ab. An seiner Stelle wurde nun ein modern europäisches Backsteingebäude im Stil einer Garnisonskirche gebaut, das zum Empfang von fremden Gästen dienen sollte und dessen groteske Hässlichkeit die ganze Gegend verdirbt. Dabei war der Erbauer dieser Scheußlichkeit ein Mann, der ein feines Kunstverständnis besaß in allem, was chinesische Dinge anlangte. Das ist das Entsetzliche an dieser Kulturkombination, dass die europäische Zivilisation immer in ihren hässlichsten und gemeinsten Erscheinungen, billig und schlecht, sich ausbreitet und die einheimische Kultur im Keim vergiftet. Von hier aus kann man die Feindschaft gerade der feinsinnigen und gebildeten Gelehrten, wie der Mitglieder jener Qingliutang, die sich dem Eindringen europäischer Kultur vergeblich entgegengestellt hatten, verstehen.
Dieses mittelchinesische Zentrum hat übrigens weiter unten am Yangtse, in Nanking, noch eine Stadt, die ebenfalls der Sitz eines Generalgouverneurs war. Nanking, die südliche Hauptstadt, die einst der Sitz der Regierung des großen Qin Huangdi war, umgibt mit seinen Mauern ein ungeheures Areal, in dem Hügel und Flächen sich abwechseln. Aber es ist seit den schrecklichen Zerstörungen, die im Gefolge der Taiping-Rebellion über die Stadt hereinbrachen, ein verödeter Platz. Eigentlich war ihm schon das Urteil gesprochen, seit Yongle, der dritte Herrscher der Mingdynastie, aus strategischen Gründen die Hauptstadt nach Norden, Peking, verlegt hatte. Aber zu dem Bezirk von Nanking gehört Shanghai, die Weltstadt, in der Nähe der Yangtse-Mündung, und diese Stadt gibt der ganzen Gegend ihr Gepräge. Es ist selbstverständlich, dass hier, wo die ungeheuren Aktienunternehmungen wie die Commercial Press, eine Druckerei, die zu den umfangreichsten der ganzen Welt gehört, und alle die vielen teils chinesischen, teils europäischen Handels-, Schifffahrts- und Industrieunternehmungen sich befinden, die ganze Reformfrage ein wesentlich akuteres Aussehen von Anfang an hatte als in den mehr im Innern gelegenen Zentren. Shanghai ist sozusagen das Laboratorium, in dem auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiet die Synthesen ausprobiert werden zwischen östlichen und westlichen Kulturformen. Wenn Peking auch stets der intellektuelle Mittelpunkt ist, so ist Shanghai in praktischer Hinsicht dem übrigen China immer um einen Schritt voraus.
Das dritte Zentrum der Reformbewegung ist Kanton. Die Südprovinzen liegen von den alten Mittelpunkten chinesischer Kultur abseits. Sie sind erst verhältnismäßig spät in den Umkreis des chinesischen Geistes einbezogen worden. Auch rassenmäßig findet sich ein gewisser Unterschied. Obwohl die meisten der Familiennamen auf chinesischen Ursprung hinweisen und auch der Dialekt eine sogar ursprünglichere, weniger abgeschliffene Form des chinesischen Sprachstammes darstellt, so sind die Menschen doch viel südlicher, heißblütiger, radikaler, abergläubischer als im Norden. Es ist daher kein Zufall, dass der chinesische Kulturzusammenhang sich hier am lockersten erweist und gerade von hier aus der Hauptstrom der Auswanderer nach dem Süden und Osten sich ergießt, der die Inselwelt Südasiens mehr und mehr unter wirtschaftliche Kontrolle bringt, ganz einerlei, wer die politischen Herrscher sind. In Niederländisch-Indien, ebenso wie in den englischen Straits-Settlements, dehnt sich der Einfluss der chinesischen Ansiedler auf wirtschaftlichem Gebiet immer mehr aus, und seit nun in Shanghai eine große Unterrichtsanstalt für Auslandschinesen gegründet ist, werden diese Kreise auch immer mehr kulturell zusammengefasst.
Aber diese Südprovinzen sind zugleich der Sitz radikaler Bewegungen. Hier hatte der Taiping-Aufstand seinen Anfang, und von hier aus waren die radikalen Reformer Kang Youwei und Liang Qichao nach Norden gekommen. Hier bildete sich nun auch ein Auslandsstudententum aus, das nicht für den Bestand der chinesischen Kultur, sondern für die Dynastie selbst gefährlich werden sollte.
Die von der Kaiserin-Witwe und ihren Ratgebern eingeleiteten Bildungsreformen litten nämlich an Systemlosigkeit. Während die Reform in Japan, ausgehend von einer Handvoll festentschlossener, zielbewusster und vollkommen geheim arbeitender Männer, nach einem beinahe mathematisch ausgezirkelten Plane, Schritt für Schritt zur Ausführung kam, waren die Verhältnisse in China viel chaotischer. Es gab in China unter den großen Führern der Nation niemand, der die nötigen Detailkenntnisse für die einheitliche Durchführung einer so ungeheuren Aufgabe gehabt hätte. Man darf ja nicht vergessen, dass die Aufgabe in China weit schwieriger war als in Japan, dessen übersichtliche Verhältnisse höchstens einer bis zwei der einzelnen chinesischen Provinzen gleichkamen. Außerdem handelte es sich in China nicht wie in Japan einfach um einen Wechsel des Gewandes, sondern um eine Neugestaltung aus der Tiefe heraus. Man hätte denken sollen, dass China, wenn es selbst die Männer noch nicht besaß, die die positiven Kenntnisse für eine solche Reform hatten, zu der Auskunft Japans hätte greifen können und ausländische Berater in umfangreichem Ausmaß hätte anstellen können, die dann die Verantwortung für die richtige Durchführung der Reformen gehabt hätten.
Auch dies ist nur bis zu einem gewissen Grad geschehen. Da und dort wurden wohl Ratgeber für die Reformen beigezogen, aber man gab ihnen nie volle Gewalt, so dass sie doch ziemlich gehemmt waren. Verschiedene Gründe lassen sich dafür angeben. Einmal war die Fühlung zwischen China und den fremden Ländern noch nicht so weit hergestellt, dass die Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, die geeigneten Leute unmittelbar auszuwählen. Zudem gab es in diesen Ländern ja wohl Fachkenner, aber keine solchen, die zugleich mit den chinesischen Verhältnissen und Bedürfnissen so vertraut waren, dass sie vor groben Missgriffen absolut sicher gewesen wären. Man musste also die heranzuziehenden Ratgeber den in China anwesenden Fremden entnehmen. Hierfür kamen in erster Linie die Zollbeamtenen und die Missionare in Betracht.
Der chinesische Seezoll ist eine Einrichtung von Sir Robert Hart, die jahrzehntelang als Verwaltungskörper geradezu musterhaft funktioniert hat. Auch die Postverwaltung und später die Salzverwaltung haben sich in dieser Hinsicht bewährt. Man kann auch nicht sagen, dass diese Körperschaften infolge ihrer fremden Beamten die Politik der fremden Nationen mehr als die Chinas betrieben hätten. Dafür war schon durch die bunte Zusammensetzung des Stabes gesorgt, der eine starke Einheit außerhalb der nationalen Schranken bilden musste, wenn er überhaupt bestehen wollte. Diese Solidarität hat sich auch recht gut bewährt. Erst im Weltkrieg ist sie in die Brüche gegangen, und die deutschen Angehörigen dieser Behörde wurden brutal entfernt. Das ist natürlich aufs tiefste zu beklagen, wenn auch hier gewiss ist, dass die Nemesis ihren Lauf nehmen wird: Was mit den Deutschen zuerst geschah, wird mit den anderen fremden Staatsangehörigen über kurz oder lang auch geschehen. Man kann wohl sagen dass der Seezoll in seiner bisherigen Form im Weltkrieg prinzipiell den Todesstoß bekommen hat.
Wenn nun aber der Seezoll als wirtschaftliche Behörde in China sehr gut entwickelt ist, so kann man doch, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht sagen, dass er als Keimzelle für die übrigen Reformeinrichtungen in Betracht gekommen wäre. Als wirtschaftliche, verhältnismäßig wohlbegrenzte Einrichtung vertrug er wohl zur Not die starke Selbständigkeit der fremden Beamten, die der chinesischen Regierung gegenüber sehr souverän mit den von ihnen eingezogenen Geldern verfuhren. Auf anderen Gebieten hätte ein solcher Staat im Staate den Tod der chinesischen Unabhängigkeit bedeutet. Sir Robert Hart hat auch die Gelegenheit, die ihm bei der Begründung der Hochschule Tongwenguan geben war, nicht so benützt, dass daraus wirklich eine musterhafte Anstalt geworden wäre. Erst nach langen, schwierigen Arbeiten ist unter chinesischer Leitung allmählich die jetzige Peking-Universität an ihre Stelle getreten. Auch die Missionare konnten sich bei allem guten Willen häufig von den christlichen Beschränkungen nicht ganz los machen. Die von ihnen geleiteten Universitäten hatten alle die Tendenz, den Christen irgendwelche Prärogativen zu geben. Wo ein einzelner weitsichtiger gewesen wäre, wurde er von den übrigen aufs gehässigste angegriffen. So war der alte, ehrwürdige D. Martin, der ein gutes Wort für den Ahnendienst einzulegen wagte - der nebenbei bemerkt in Japan keine Missionsschwierigkeit gemacht hat -, lange Jahre hindurch verfemt und geschmäht.
Man musste irgendwie seinen Weg im Ungewissen vorantasten. Es entstanden Schnellpressen, um das nötige Lehrermaterial auszubilden. Ein Raritätenkabinett und Panoptikum unter Leitung eines englischen Missionars in Jinanfu genoss allgemeine Hochachtung, und man nahm sogar die Predigten in Kauf, die man über sich ergehen lassen musste, ehe man zugelassen wurde zum Anblick der Wunder des Westens.
Daneben wurden Studenten ins Ausland geschickt, um dort die neue Wissenschaft an der Quelle zu trinken. Aber auch hierin herrschte kein System. Erst als Amerika den Überschuss der Boxerindemnität an China zurückgab, damit jährlich eine Anzahl chinesischer Studenten nach amerikanischen Universitäten geschickt werden, begann eine wirklich wissenschaftliche Ausbildung der chinesischen Jugend. Das aber war erst später. Zunächst wandte sich der große Strom der Lernbegierigen nach Japan. Man kann nicht sagen, dass Japan der ihm hieraus entstehenden Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Allerdings muss man zugunsten Japans anführen, dass der Andrang die ordentliche Aufnahmefähigkeit der japanischen höheren Schulen bei weitem überstieg. So mischte sich private Tätigkeit oft recht zweifelhafter Art in den Betrieb. Gleichzeitig waren die Sendboten der chinesischen Revolution unter den jungen Leuten tätig. Es gab mancherlei Konflikte, und schließlich kamen die meisten wieder zurück, nicht sehr wesentlich gefördert an Kenntnissen, aber reif für die Revolution.