Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
Der gesellschaftliche Verkehr in China ist wie der antike
Verkehr aller patriarchalisch organisierten Völker bis in die neueste Zeit
ausschließlich Männerverkehr. Die Frauen walteten im Innern des Hauses,
besuchten sich gegenseitig, tauschten ihre Erlebnisse und Ansichten aus, aber
sie gingen nicht mit ihren Gatten und Vätern gemeinsam zu Gesellschaften. Eine
Durchbrechung dieser Sitte fand nur statt bei Tempelbesuchen und
Theatervorstellungen, auch bei Messen und Märkten kam es zuweilen vor, dass
Frauen und Mädchen mit ihren Dienerinnen sich gelegentlich zeigten. Aber auch
diese Ausnahmen waren wohl mehr geduldet als gewünscht. Selbst gute Freunde
kannten gegenseitig kaum ihre Frauen; nur bei den Mandschus herrschte in dieser
Beziehung mehr Freiheit. Durch diese Sonderung der Geschlechter bekam natürlich
der ganze öffentliche Gesellschaftsverkehr seinen Charakter. Er war
ungezwungen, gelegentlich ließ man sich etwas gehen, mancher fühlte sich
erleichtert, wenn er der leitenden Hand der Gattin entronnen war; denn in China
kommen trotz des herrschenden Patriarchats gelegentliche inoffizielle Rückfälle
in ein gemäßigtes Matriarchat vor, die von dem Betroffenen meist sehr deutlich
empfunden werden, wenn sie auch nach außen hin nicht hervorzutreten pflegen.
Man kann jedoch nicht sagen, dass der gesellschaftliche Verkehr in gebildeten
Kreisen unbeherrscht oder unfein wäre. Dazu wird er viel zu sehr geleitet und
geordnet von den Regeln einer Sitte, die ohne lästige Formalitäten äußerer
Art doch für alle Lebenslagen das Richtige nahe legt. Mit den erwähnten Verhältnissen
hängt es auch zusammen, dass der Gesellschaftsverkehr gewöhnlich nicht in den
Privatwohnungen vor sich geht, sondern in Räumen von mehr oder weniger öffentlicher
Art. Es gibt in Peking z. B. einige
Eine solche Gesellschaft findet sich allmählich am
verabredeten Ort ein. Ehe die Gäste vollzählig sind, steht oder geht man
umher. Ein Diener bringt feuchte heiße Tücher, mit denen man sich Gesicht und
Hände abwischt, was im Sommer erfrischend, im Winter erwärmend wirkt. Eine
Tasse Tee wird vor jeden der Gäste gestellt. Melonen- und Sonnenblumenkerne
stehen auf kleinen Tellerchen umher. Man knackt unter dem Sprechen die Schalen
und isst die Kerne. Man steckt sich eine Zigarette an und vertreibt die Zeit mit
leichten Gesprächen über literarische Tagesneuheiten, Politik oder Kunst. Ein
schweres Gespräch zu führen wäre jetzt nicht die Zeit, da die allmählich
eintreffenden Freunde doch dauernd die Gedanken unterbrechen würden. Wenn die
Speisenfolge nicht schon zum voraus festgelegt ist, so reicht der Gastfreund
etwa die Speisekarte herum, und jeder Gast wählt irgendeine der Speisen aus,
die nachher auf den Tisch kommen sollen. Endlich sind die Gäste vollzählig,
und man begibt sich zu Tisch. Das ist in kleineren Landorten immer eine
schwierige Sache, fast wie wenn zwei Deutsche miteinander durch eine Tür gehen
sollen. Oft kommt es da vor, dass die einzelnen Gäste sich tückisch auf einen
niedrigeren Platz setzen und die armen jüngeren Opfer obenan sitzen lassen
wollen. Das können diese nun unter keinen Umständen dulden, und so entstehen
oft minutenlange Höflichkeitskämpfe gegenseitiger Bescheidenheit. In den
hauptstädtischen Gesellschaften ist das jedoch nicht mehr üblich. Da jeder der
Gäste durch Alter und Stellung einen deutlich fixierten Platz hat, so schreibt
der Gastfreund Namenkarten und legt sie an die Plätze, oder er gießt der Reihe
nach unter Nennung der betreffenden Namen und mit einer Verbeugung Wein in die
bereitstehenden Schälchen. Die Gäste folgen mit mäßigen Versuchen, sich
weniger ehrenvolle Plätze zu sichern, den Aufforderungen des Wirts. Zutrinken
des Wirts an die Gäste und dankende Erwiderung i dieses Grußes eröffnet das
Mahl.
Nun beginnt die Schlacht. Jeder Gast hat ein Tellerchen für
Man geht beim Essen selbstbeherrscht vor. Man trinkt ein
Schälchen Wein, man nimmt gelegentlich einen Bissen der kalten Fleisch- und Gemüseschnitten,
die zunächst auf dem Tisch stehen, legt die Stäbchen wieder hin, plaudert, isst
ein paar Melonenkerne, trinkt wieder und kostet dann einen anderen Bissen. Man
hat keine Eile, man lässt sich Zeit. Fremde machen in der Regel den Fehler,
dass sie vom ersten Anfang an, schon bei den Vorspeisen, viel zu ernsthaft ins
Zeug gehen. Sie sind dann häufig nach dem dritten oder vierten Gang erledigt,
oder müssen sich mit Hilfe von vielem Wein rettungslos den Magen überladen.
Ein chinesisches Essen ist eine lange, ausführliche Sache und will mit Überlegung
und Verstand genossen sein. Die europäische Art, die Speisen, die einem
vorgesetzt werden, ohne Besinnen hinunterzuschlucken, ist dem Chinesen fremd. Er
weiß, was er isst, und schämt sich nicht, einen guten Bissen zu würdigen.
Der Wein, den man trinkt, ist in der Regel aus Reis gebraut
und ist in Farbe und Geschmack dem Sherry nicht unähnlich, doch weniger
alkoholhaltig. Jeder Chinese weiß, wie viel er davon vertragen kann, und
richtet sich danach ein. Der beste Wein kommt aus dem Bezirk Schaoxingfu in der
Nähe von Hangzhou. Aber die feinsten und ältesten Sorten bekommt man selten an
Ort und Stelle, da sie meist nach der Hauptstadt gesandt werden.
Unter den kalten und warmen Vorspeisen befinden sich
Bambussprossen und Föhrenblüteneier, sogenannte schwarze Eier, die in Europa
immer noch als tausendjährige Eier verschrien sind, obwohl sie ihre Farbe und
ihren etwas
Über dem Essen wird auch das Trinken nicht vergessen.
Trinkspiele werden gemacht, teils alte, wie das bekannte Fingerspiel, teils
neue, die oft einen humoristischen Anstrich haben wie Mann, Frau und Nebenfrau.
Daumen ist Gatte, Zeigefinger Gattin, kleiner Finger Nebenfrau. Der Gatte siegt
Unterdessen erscheint Schüssel um Schüssel. Nach einer
Serie kommt jeweils ein süßes Gericht, wie in Zucker gekochte Lotoskerne oder
mit Zuckerfäden umsponnene Süßkartoffeln. Man wäscht Löffel oder Stäbchen
vor und nach dem süßen Gang. Immer nach dem süßen Gang kommt eine neue
Serie. Wenn die Gäste am Ende ihrer Kraft angelangt zu sein schienen, dann
macht der Wirt den Vorschlag, zum »Essen« überzugehen. Denn das alles waren
eigentlich nur etwas überentwickelte Vorspeisen. Das eigentliche Essen besteht
aus Reis oder Hirse mit einigen Fleisch- und Gemüseschüsseln. Hat man den Reis
gegessen, so steht man auf, spült den Mund und trinkt zu einer Zigarette noch
eine Tasse von irgendeinem kräftigen Tee. Man wechselt noch ein paar Worte und
verabschiedet sich dann sehr rasch.
Die einzelnen Mahlzeiten dauern, wenn sie erst angefangen
haben, nicht übermäßig lange. Es kommt bei vielbeschäftigten Menschen wohl
vor, dass sie an einem Abend zu zwei oder drei Mahlzeiten gehen. Sie sind von
verschiedenen Freunden eingeladen und möchten keinen durch eine Absage kränken,
so verabreden sie die Reihenfolge, in der sie bei den verschiedenen Diners
erscheinen, und kommen dann bei dem einen zur ersten Hälfte, beim ändern zur
zweiten. Ein humaner Zug bei diesen Diners ist, dass nicht nur die geladenen Gäste
bewirtet werden, sondern auch die Kutscher, Chauffeure oder Rikschakulis, die
sie mitgebracht haben. Wenn die Gäste versammelt sind, wird eine Liste
aufgestellt, wer einen Diener draußen hat, und jeder von ihnen bekommt dann
eine kleine Summe für Essgeld ausgehändigt, die dem Gastgeber mit auf die
Rechnung gesetzt wird.
Diese Mahlzeiten zeigen mehr das offizielle Bild. Es gibt
in Peking eine ganze Reihe von Restaurants, die auch recht guten Zuspruch von
Europäern haben, denn ihre Speisen sind so vorzüglich und schmackhaft
zubereitet, dass auch viele Fremde das Bedürfnis haben, sich von der täglichen
Routine gelegentlich durch ein chinesisches Essen zu erholen.
Die Chinesen sind seit uralten Zeiten Meister der
Kochkunst. Auch die bedeutendsten Staatsmänner und Weisen haben es für nicht
unter ihrer Würde erachtet, sich mit dem Nachdenken über Speisen und ihre
Zubereitung zu beschäftigen. Der Sage nach hat in der ersten Hälfte des
zweiten vorchristlichen Jahrtausends der berühmte Staatsmann Yiyin den großen
König Tang dadurch für seine Pläne gewonnen, dass er als Koch in seine
Dienste trat. Das mag Sage sein, aber wir haben aus der Mitte des dritten
vorchristlichen Jahrhunderts eine Abhandlung über die Gespräche, die bei
diesem Anlass geführt worden seien. Damals wenigstens muss also das Nachdenken
sich diesen Dingen bereits zugewandt haben. Es heißt da u. a.:
Als der König Tang den Yiyin gefunden hatte, stellte er
ihn im Ahnentempel dar. Er stellte ihn in das Licht des heiligen Feuers und
bestrich ihn mit dem Blut des Opferschweins. Am folgenden Tag hielt er Hof und
empfing ihn. Da redete er mit Tang über die Kochkunst. Tang sprach: »Könnt
ihr die feinsten Speisen zubereiten?« Yiyiin sprach: »Euer Land ist klein, da lässt
sich nicht alles beschaffen. Wenn man aber Großkönig ist, dann findet sich
alles.« Dann hob er an: »Von den Tieren der drei Naturreiche haben die im
Wasser lebenden einen tranigen Beigeschmack, die Fleischfresser einen wilden
Beigeschmack und die Grasfresser einen ranzigen Beigeschmack. Aber trotz dieser
Beigeschmäcke kann es gut schmecken. Es kommt nur auf die Zubereitung an. Die
Grundlage aller Speisen ist vor allem das Wasser. Es gibt fünf Geschmacksarten,
drei Materialien, neun Kochweisen, neun Bratweisen der Speisen, wobei es auf die
Anwendung der verschiedenen Feuer ankommt. Zuweilen muss das Feuer rasch sein,
zuweilen langsam. Den Beigeschmack des Tranigen, Wilden, Ranzigen bekommt man
durch stärkere Gegenmittel weg, wenn man die richtige Reihenfolge nicht
verfehlt. Bei der Mischung muss man süß, sauer, bitter, scharf und salzig
richtig abwägen, man muss wissen, was von jedem früher, was später zugesetzt
werden muss und wie viel von jedem. Diese Verteilung ist sehr kompliziert, muss
sich aber in allen Stücken nach der Regel richten. Die Veränderungen, die mit
den Speisen nach dem Anrichten noch in der Schüssel vor sich gehen, sind so
fein und geheimnisvoll, dass man sie gar nicht in Worten erklären kann. Es ist
wie bei den subtilsten Kunstgriffen beim Schießen und Wagenlenken, wie bei den
geheimnisvollen Wachstumsvorgängen im Lauf der Natur.
Die abgelagerten Fleischstücke dürfen nicht verdorben
sein, die gargekochten nicht zerkocht, die süßen Speisen nicht widerlich, die
sauren nicht zusammenziehend, die salzigen nicht versalzen, die scharfen nicht
brennend, die milden nicht fade, die fetten nicht abgestanden.
Das Beste unter den Fleischspeisen sind die Lippen des
Orang-Utan, die Schwänze junger Schwalben, das Mark von Büffeln und Elefanten.
Westlich von den Wanderdünen im Süden des Zinnoberberges gibt es Phönixeier,
die die Leute von Yü essen. Die besten Fische sind die Butte vom Dongting-See
und die Sardinen des Ostmeers. In der Nektarquelle gibt es einen Fisch, der heißt
Scharlachschildkröte. Er hat sechs Beine und Perlen wie grüner Jade. In der
Tiefsee gibt es einen Fisch, der heißt Flugfisch. Er sieht aus wie ein Karpfen
und hat Flügel, mit denen er aus dem Wasser sich erheben kann. Unter den Gemüsen
sind die besten die Algen vom Qunlun-Berg, die Früchte vom Baum des Lebens. An
den Ufern des Südpols gibt es ein Gemüse das heißt der Baum der Erkenntnis,
seine Farbe ist wie grüner Jade; am Hua-Berg gibt es die beste Petersilie, am
Yunmeng-See die beste Sellerie. In Qinyuan gibt es ein Kraut, das heißt Erdblüte.
Unter den Gewürzen sind die besten
Wenn man nicht Großkönig ist, so kann man diese Dinge
nicht vollzählig bekommen. Auch wenn man Großkönig ist, muss man sie nicht
erzwingen wollen. Erst muss man die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit liegt aber
nicht irgendwo draußen, sondern sie ruht in uns selbst. Sind wir selbst fertig,
so ist das Königtum fertig. Ist das Königtum fertig, so sind die feinsten
Gerichte alle zu unserer Verfügung.«
Während dieser Staatsmann seinen Fürsten durch die
Unterhaltung über Speisen zum Guten lockte, hat später einmal der Koch Yi Ya
des Fürsten Huan von Qi diesen ruiniert. Er hat seinen eigenen Sohn
geschlachtet, weil der Fürst gern einmal Menschenfleisch gegessen hätte. Der
Minister Guan Zhong warnte den Fürsten vor dem Menschen, der dem natürlichsten
Gefühl der Liebe zu seinem Sohn so ins Gesicht geschlagen habe. Aber der Fürst
machte doch den Koch Yi Ya und seine Genossen zu Ministern. Diese machten später
eine Verschwörung. Sie schlössen das Palasttor ab, bauten eine hohe Mauer und
ließen niemand hinein, indem sie das für einen Befehl des Herzogs ausgaben.
Eine der Frauen des Fürsten kletterte über die Mauer und kam zu ihm. Der Fürst
sprach: »Ich möchte etwas zu essen.« Die Frau sprach: »Ich kann nirgends
etwas bekommen.« Der Fürst sprach wieder: »Ich möchte etwas zu
Solche Geschichten zeigen, welche Rolle im Guten und Bösen
die Kochkunst im Lauf der chinesischen Geschichte schon gespielt hat. Auch jetzt
noch gibt es Gelehrte und Staatsmänner, die sich mit der Zubereitung und
Erfindung neuer Gerichte beschäftigen. Kenner gehen überhaupt nur
ausnahmsweise in große Restaurants. Denn dort gibt es im wesentlichen
festbestimmte Speisen. Die Auswahl ist allerdings sehr groß, aber es sind doch
immer wieder dieselben Typen. Man hat die Restaurants vom alten Shandong-Typ,
die die berühmten Gerichte servieren, die für ein gewöhnliches Festessen
erfordert •werden. Die neuen Shandonger Restaurants haben mehr die Art der
Jinanfuer Küche, die sich manches aus der europäischen Küche zugelegt hat,
wie Milchsoßen, Spargel und Brotgebäck. Daneben gibt es noch Henan-, Sichuan-
und Yangzhou-Restaurants. Die Kantonküche ist sehr verschieden von den übrigen
Arten der Pekinger Küchen und wird im Norden nicht sehr geschätzt. Wer sich
auskennt, kann beim ersten Bissen unterscheiden, welcher Gattung die Küche
angehört. Merkwürdig ist, dass keins der Restaurants in Peking von Pekinesen
betrieben wird. Es geht hier wie mit dem Wein: Alles ist aus anderen Provinzen
importiert. Aber es gibt m den Provinzen nirgends eine so gute Küche wie in der
Hauptstadt.
Neben diesen großen Restaurants gibt es aber auch noch
Spezialitäten, die von den Kennern bevorzugt werden. Es gibt etwas abgelegen
ein ziemlich kleines Haus. Der Wirt schlachtet jeden Tag ein Schwein. Das
Fleisch wird in seinen verschiedenen Teilen in raffiniertester Weise zubereitet,
so dass eine
Im Pianyifang ist das Entenrestaurant. Hier gibt es die berühmte
Pekingente, die Krone aller Gerichte, wenn die Haut, auf dem Roste knusprig
gebraten, in kleinen Stücken frisch auf den Tisch kommt. Man hat eine Art
Mehlkuchen, den man mit Sojaextrakt betupft. Darin werden die Entenstreifen
eingewickelt. Feinschmecker nehmen noch einen Porreestängel dazu. Auch sonst
gibt es die verschiedensten Gerichte, weit über hundert, die alle aus
Pekingenten zubereitet sind. Die Gegend ist abgelegen im äußersten Süden der
Stadt. Die Räume sind dunkel und unbequem, aber in der schmalen Straße drängen
sich abends die Autos, Pferde- und Menschenwagen aneinander, dass die Straße
auf eine lange Strecke fast unpassierbar ist, denn jedermann muss doch einmal im
Entenrestaurant gewesen sein. Auch die Fremden, selbst wenn manchen unter ihnen
das schwere Entenfleisch Beschwerden bereitet.
Ein weniger feiner als origineller Ort liegt in der Nähe
des Südtors. Wenn man abends durch das Tor in den Hof tritt, so sieht man überall
Feuer lohen und Kohlen glühen. Um diese Feuer drängen sich sitzend und stehend
die Gäste, um vom Rost sofort das knusprige Fleisch in Empfang zu nehmen. Es
ist das Hammelrestaurant, in dem wir uns hier befinden. Warm, dampfend, gekocht,
gebraten, geröstet kommen die Fleischstücke auf die Platten, Gemüse aller
Art, die das Hammelfleisch schmackhaft machen, werden aufgetragen. Statt des
milden
Im Winter kann man auch wohl einen Feuertopf kommen lassen.
Das ist ein kupferner Kessel, der von unten her durch Holzkohlen oder Weingeist
geheizt wird, in dessen Wölbung heiße Fleischbrühe sprudelt. Platten mit
rohen Fleischschnitten aller Art, mit Gemüse, Chrysanthemumblättern und Nudeln
werden aufgetragen. Jeder der Umhersitzenden wählt sich die Stücke aus, die
ihm munden, und hält sie mit seinen Essstäbchen in die sprudelnde Brühe, bis
sie gar sind. Man kann auf diese Weise jeden Grad der Fertigstellung, der einem
angenehm ist, herstellen. Das Gericht wirkt ungemein erwärmend. Wenn man aber
eine Weile in Kornschnaps und Schaffleisch gewütet hat, so bekommt man schließlich
beinahe wilde Wolfsinstinkte, und man kann verstehen, wie manche Tiere sich in
heißem Blut berauschen.
Das Gegenstück zu dieser primitiven Wirtschaft ist ein
vegetarisches Haus. Der Wirt hat die Geschichte seiner Bekehrung aufschreiben
lassen und an die Wände der Speisezimmer aufgehängt. Ihm waren einst im Traum
die Seelen sämtlicher von ihm geschlachteten Tiere erschienen: die Schweine bösartig,
schnarchend, manche sentimental quiekend, dann kamen die blökenden Schafe und
Ziegen mit vorquellenden Augen, ein halbes Reh schlich sich heran, und die
Scharen von Fasanen, Enten, Hühnern, Küken, Eiern gackerten und schnatterten
durcheinander, die Fische wälzten sich schnalzend auf dem Boden, die Krabben
und Tintenfische stierten aus tückischen, kleinen Augen, und die kleinen Reisvögel
saßen traurig gerupft auf den Drähten. Sie alle klagten ihn des Mordes an und
wollten sich zur Rache über ihn hermachen und ihn töten. Da flehte er um sein
Leben und tat ein Gelöbnis, fürder kein Tier mehr zu töten und sich mit allen
Kräften für sie einzusetzen. Da ließen sie ihn los, und er erhielt noch
einige Geheimrezepte, um ganz besonders gute Sachen zu bereiten. Seitdem kann
man in dieser Wirtschaft haben, was man will: geröstete Schweinenieren,
So gibt es noch eine ganze Menge von Spezialitäten, mit
denen man sich die Zeit vertreiben kann. Neben erlaubtem Zeitvertrieb ist auch
der unerlaubte nicht ganz unbekannt. Gelegentlich tun sich in verborgenen
Winkeln einige Bekannte zusammen zum Spiel. In der Regel ist es das »Majong-Spiel«,
das auf chinesisch Majuepai heißt, und von dem die Sage geht, dass es ein
General Ma im Felde erfunden habe, um einen Zeitvertreib für seine Soldaten zu
haben. In China ist das Spiel, wie jedes Glücksspiel, verboten, da es viel Unglück
ins Haus bringt; denn trotz aller Ruhe bei der Handhabung der hübschen
harmlosen Dominosteine pflegt es die Leidenschaft der Spieler aufs heftigste zu
erregen, und nicht selten ist es, dass die ganze Nacht beim Spiel verbracht wird
und der Morgen durch die Fenster scheint, wenn der Verlierer seine Verluste
zusammenrechnet. Die Industrie, die sich mit der Anfertigung solcher Spiele
beschäftigt, ist neuerdings sehr in Blüte gekommen wegen der unglaublichen
Menge von Majong-Spielen, die eine Zeitlang namentlich nach Amerika exportiert
zu werden pflegten. So heftig war diese Leidenschaft, dass die Damen sogar
eigene »Majong-gowns« aus China bezogen. Das waren aus der Mode gekommene und
daher abgelegte Kleider von Prostituierten, die nun im Westen zu Ehren kamen. Später
wurden für den Export auch extra antike Gewänder hergestellt, die ganz
reinlich und neu aussahen. Wie heftig die Leidenschaft für Majong war, dafür
ist das beste Beispiel eine kleine Geschichte, wie ein Dienstmädchen ihrer
Herrin kündigte. Als sie nach dem Grund gefragt wurde, sagte sie, sie habe sich
im Hause über gar nichts zu beklagen, aber der Hausherr sei geisteskrank
geworden, und sie fürchte sich. Als sie kürzlich morgens früh ins
Gesellschaftszimmer gekommen sei, habe immer noch Licht
Das Opiumrauchen ist zwar noch keineswegs ganz
verschwunden, aber man kann doch bemerken, dass es sehr wesentlich zurückgegangen
ist. Man scheut sich, es öffentlich zu betreiben, nicht nur, weil es gesetzlich
verboten ist, sondern es ist nicht mehr gesellschaftsfähig. Namentlich in den
gebildeten Kreisen Jung-Chinas sieht man mit unverhohlener Verachtung auf die »Opiumteufel«
herab. Leider sind hauptsächlich aus Japan eine Menge von Mitteln eingeführt
worden, die unter dem Vorwand, Arzneimittel zur Opiumentziehung zu sein,
Morphiumpräparate und andere Gifte enthalten. Überhaupt, was unter dem
Decknamen von Medizinen vom Ausland eingeführt und verkauft wird, ist empörend.
Durch marktschreierische Anpreisungen werden Dinge verbreitet, deren man sich
schämen sollte. Im besten Fall sind es wertlose Präparate, die nichts nützen,
aber häufig wird die Angewöhnung aller möglichen Gifte auf diesem Wege
betrieben, und das ganze Land wird entstellt durch eine gemein aufdringliche
Reklame.
Von den Klubhäusern und Restaurants kommend, müssen wir
noch einen kurzen Blick werfen auf die Teehäuser. Wie wir gesehen haben, ist
die Gesellschaft in China im wesentlichen Männergesellschaft. Das bringt, ähnlich
wie im alten Griechenland, die Sitte mit sich, während des Zusammenseins bei
den Mahlzeiten gelegentlich kleine Sängerinnen kommen zu lassen. Die Mädchen
waren ursprünglich junge Künstlerinnen. Sie beherrschten die Literatur,
dichteten wohl selbst, spielten die Zither und sangen dazu. Sie waren gewöhnt
an den Verkehr mit Männern, und während Damen aus der Gesellschaft errötend
verstummten, oder wenn sie zu zweien waren, hinter dem vorgehaltenen Taschentuch
kicherten beim Zusammentreffen mit einem fremden Mann, waren die kleinen Künstlerinnen
frei
Mit der Zeit kann es dann auch zu intimeren Beziehungen
kommen. Doch ist das keineswegs die Hauptsache, und das ganze Verhältnis behält
auch in diesem Fall etwas Zartes und ist von den brutalen Massivitäten, wie sie
in Europa mit der Prostitution verbunden sind, weit entfernt. Immer handelt es
sich um ein Werben um die Gunst des Mädchens, und wenn das Mädchen dem
Bewerber ihre Gunst gewährt, so ist stets die Fiktion einer Ehe für längere
oder kürzere Zeit vorhanden. Es ist z. B. vollkommen unmöglich, dass ein Gast
in einem Teehaus mit zwei Mädchen auch nur freundschaftlich verkehrt, da dies
gegen den guten Geschmack verstieße.
In einem Punkt ist den armen kleinen Mädchen trotz des
traurigen Schicksals, dem sie anheim gegeben sind, ein Rest von Freiheit
gegeben. Sie kommen meist sehr jung in die Teehäuser
Trotzdem eine gewisse Poesie über diesen Dingen schwebt,
die dem Fremden alles in viel freundlicherem Licht erscheinen lässt, als ähnliche
Verhältnisse anderwärts, ist das Los dieser kleinen Teehausmädchen meist ein
unendlich trauriges, wie folgende Geschichte zeigt:
Die kleine Xiu Ying
war das Kind eines einfachen Kaufmanns in Shanghai. Harmlos verbrachte sie
ihre Kindheit in Hong-kew, dem Hafenviertel der Großstadt. Hoffnungen auf Glück
und Schönheit belebten die Träume des Kindes. Einmal war eine Wahrsagerin
gekommen und hatte ihr viel Schönes prophezeit. Nicht gewöhnlich werde ihr
Schicksal sein. Entweder werde sie in einer Schule ausgebildet werden, oder
werde sie sich als Künstlerin einen Namen machen. Xiu Ying war ein schüchternes,
sanftes Kind und spielte auf der Straße wie die anderen Kinder. Ein kleiner
Bruder kam zur Welt; da wurde sie mit der Sorge um das kleine schreiende Ding
betraut. Nun gab es ernste Stunden. Denn der Kleine war ein Tyrann, und die
Schwester hatte genug zu tun, ihn zu hüten und ihn immer wieder zufrieden zu
stellen. Da starb der Vater plötzlich, als sie
Xiu Ying war selig, als sie von der Reise und all den
goldenen Dingen hörte. Schöne seidene Kleider wurden für sie gekauft, in
denen sie im Spiegel sehr niedlich aussah. Bald ging die Reise übers Meer nach
Peking. Die Mutter schenkte ihr zum Abschied noch einen Ring mit grünen
Chrysopras. Ihren kleinen Bruder nahm sie mit, um die Sorge für seine Erziehung
der armen Mutter abzunehmen. Eine andere Tante, die auch ein wenig Geld
vorgestreckt hatte, ging ebenfalls mit. Die erste Tante hatte noch ein ganz
kleines Töchterchen. So war denn eine ganze Familie beisammen, als sie von
ihrer Mutter voll froher Hoffnung Abschied nahm.
Sie hatte von Glück und Jugend Abschied genommen. In
Peking wurde nun ein kleines dunkles Zimmer gemietet und außerdem in einem
Teehaus erster Klasse ein Platz belegt. Die Ausstattung des Zimmers kostete
wieder einige hundert Dollar. Ein Lehrer wurde gemietet, der der kleinen Xiu Ying
die Anfangsgründe des Singens beibrachte. Sie musste Lieder in großer Zahl
auswendig lernen und zu den schrillen Tönen der
Das Schönste waren noch die Kleider, die waren nach dem
neuesten Schnitt, und sie freute sich, hübsch zu sein, wenn sie ihr Gesichtchen
vor dem Spiegel schminkte. Nun sollte sie Gäste unterhalten. Das war etwas
Entsetzliches. Ein paar Mal hatten einige übermütige junge Männer die Kleine
zur Gesellschafterin gewählt. Aber sie sprachen so seltsame Dinge und sahen sie
so fremd und furchtbar an, auch wenn sie lachten. Sie wusste nicht, was die Männer
von ihr wollten. Sie bekam Angst und war ganz verschüchtert. Bei Nacht aber
hatte sie Heimweh und weinte bitterlich.
Sie hatte es sehr schwer. Von dem geringen Verdienst, mit
dem sie infolge ihrer Schüchternheit sich begnügen musste, sollte sie die
ganze Gesellschaft, die sich an sie gehängt hatte, ernähren und sollte noch
dazu Zinsen zahlen für die Vorschüsse. Sie bekam nicht soviel Geld zusammen,
und statt weniger wurden die Schulden immer mehr. Eine Zeitlang kam ein
Lichtblick in ihr Leben. Mit einigen chinesischen Freunden kam ein Europäer
einst ins Teehaus. Der konnte Chinesisch und redete mit ihr. Erst hatte sie
namenlose Angst; denn sie hatte gehört, dass die Fremden Kinder fressen, und so
wusste sie nicht, was alles Entsetzliches geschehen werde. Aber die Tante lachte
sie aus: »Die Fremden sind auch Menschen gerade so wie wir, wozu Angst vor
ihnen haben?« Allmählich merkte sie auch, dass der Fremde es gut mit ihr
meinte. Er verlangte nichts Schlechtes von ihr. Manchmal brachte er ihr kleine
Geschenke mit, oft erzählte er seltsame fremde Märchen. Sie musste ihm auch Märchen
erzählen. Da erzählte sie ihm alle Märchen, die sie von ihrer Kindheit her
wusste, und als ihr Vorrat zu Ende
Im Sommer verreiste der Freund. Das war sehr traurig, denn
nun kam sie bald in Geldnot. Ihre Schulden häuften sich immer mehr, und sie
weinte oft Nächte lang, weil sie nicht wusste, wie sie alles abbezahlen sollte.
Sie hätte die Möglichkeit gehabt zu entfliehen, und sich in einem Asyl zu
melden, wo solche Mädchen Zuflucht finden und aus den Krallen ihrer Peiniger
befreit werden. Aber sie hatte nicht den Mut dazu. Denn die Tante hatte ihr
immer schon erzählt, dass der Mensch alle Schulden abbezahlen müsse, die er
gemacht. Wenn er es nicht tue, so müsse er als Kuh oder Hund wieder auf die
Welt kommen und seinem auch wiedergeborenen Gläubiger so lange dienen, bis auch
der letzte Heller abgetragen sei. Deshalb hatte sie auch abgelehnt, als ihr
Freund sie aus dem Teehaus retten wollte und versprach, sie in einer Mädchenschule
unterzubringen, damit sie etwas Rechtes lernen und ein anständiges Leben
beginnen könne. Sie hatte sich erst gefreut; denn keines dieser Mädchen würde
sich auch nur einen Augenblick besinnen, wenn ihm ein Weg geöffnet würde, der
zum Leben empor führt. Sie hatte sich dann mit ihrer Tante besprochen. Die
hatte ihr aber mit ihren Schulden so entsetzliche Angst gemacht, dass sie nicht
wagte, das Anerbieten anzunehmen.
Damit war ihr Schicksal entschieden. Der Freund war fern
und konnte ihr nicht helfen. Sonst hatte sie niemand auf der weiten Welt. Da kam
ein Student aus der Gegend von Yangtse. Er schien sie lieb zu haben und war
todunglücklich, als sie seine Liebe nicht gleich erwiderte. Er schwur, bei
seiner Mutter durchzusetzen, dass er sie heiraten dürfe. Die Tante drängte das
Mädchen von Tag zu Tag. Endlich gab sie nach. Es folgten ein paar kurze Wochen
einer süßen Liebeszeit, in der das Mädchen zur Tiefe der Seele und voller Schönheit
heranreifte. Der Student reiste in seine Heimat zurück und versprach ehestens
zu schreiben. Er hat nie wieder etwas von sich hören lassen.
In banger Erwartung harrte Xiu Ying auf seine Wiederkehr.
So spielen tragische Ereignisse sich hinter der bunten Außenseite
der festlich erleuchteten acht Gassen ab, in denen Abend für Abend die Autos
sich drängen und vornehme Gäste die kleinen Teehausmädchen besuchen.
In der Nähe dieser Straßen stehen
die Theater, in denen bis spät in die Nacht hinein gespielt wird. Man
unterscheidet verschiedene Gattungen von Theaterstücken: das große historische
und das bürgerliche Drama. Das große historische Drama zeigt sich schon in dem
Aussehen der Schauspieler. In prächtigen Rüstungen,
mit Wimpeln umsteckt, erscheinen sie. Die Peitsche in der Hand deutet an, dass
sie zu Pferde sind, und in wilden Sätzen tummeln sie ihre imaginären Pferde,
bis sie etwa absteigen und sich zum Kriegsrat versammeln. Der Oberfeldherr sitzt
dann auf einem erhabenen Thron, der durch einen Tisch dargestellt wird. Soll
eine Stadt erobert werden, so wird ein auf blaues Tuch gemaltes Stadttor vorübergetragen.
Kulissen in unserem Sinn gibt es auf dem chinesischen Theater nicht, sondern ähnlich
wie auf der Shakespeare-Bühne werden der Phantasie des Zuhörers nur einige
allgemeine Anhaltspunkte gegeben. Die Kämpfe der Helden mit ihren oft
bewundernswerten akrobatischen Kunststücken, ihre Gesänge und majestätischen
Bewegungen werden von einer rauschenden Musik begleitet, die namentlich durch
ihren Rhythmus aufregend wirkt. Die Masken sind alle symbolisch. Mut und
Tapferkeit wird
Wesentlich feiner als diese kriegerischen Stücke sind die
bürgerlichen Dramen. Auch sie enthalten einen Wechsel von gesprochener Rede und
Gesang. Das Orchester ist aber weniger lärmend. An Stelle der vielen
Schlaginstrumente und Trommeln, die an europäische Ohren oft allzu große
Anforderungen stellen, werden mehr Geigen und Flöten verwandt. Auch im bürgerlichen
Stück ist Handlung und Bewegung stark stilisiert. Jede Gemütsbewegung hat
ihren festen Ausdruck. Eine Frau, die Angst hat, hält z. B. einen Arm vor das
Gesicht und den anderen auf den Rücken; höchste Aufregung zeigt sich in einem
Zittern des ganzen Körpers usw. Die festen symbolischen Ausdrucksformen
erleichtern das Verständnis der Handlung ganz bedeutend, zumal da ein
gesungener Text auch in China nicht leichter verständlich ist als in Europa.
Für gewöhnlich wird in den größeren Theatern nur selten
ein ganzes Stück auf einmal gespielt. Vielmehr nimmt man einzelne Akte heraus.
In der Regel werden Teile von fünf bis sieben verschiedenen Dramen an einem
Abend zur Darstellung gebracht. Da der Gang der Handlung dem chinesischen
Theaterbesucher bekannt ist, findet er sich in diese abgerissenen Teile jeweils
rasch hinein.
Als dritte Gattung kennt man noch eine Art Possen, in denen
nur gesprochen, nicht gesungen wird. In diesen Stücken, die meist durch ihre
drastische Handlung auch dem Europäer ohne weiteres verständlich sind, zeigen
sich die bedeutenden humoristischen Talente, die es in China gibt, von ihrer
besten Seite.
Dem europäischen Zuhörer fällt beim chinesischen Drama
die Art auf, wie die Schauspieler beim ersten Auftreten ihren
Bis vor kurzem gab es in China nur Schauspieler, keine
Schauspielerinnen. Auch die Frauenrollen werden in diesem Fall von Männern
gespielt, und zwar gibt es eine Reihe vorzüglicher Frauendarsteller. Seit
einiger Zeit sind auch Mädchentheater vorhanden. In diesen Theatern werden dann
auch die Männerrollen von Mädchen gegeben. Die Schauspielerinnen sind meist
ziemlich jung. Sie haben ihren Höhepunkt mit sechzehn und siebzehn Jahren. Wenn
sie zwanzig Jahre alt sind, haben sie in der Regel schon einen Freier gefunden.
Die schauspielerischen Leistungen dieser jungen Damen sind zum Teil so, dass sie
mit Recht unter die größten Künstler gezählt werden können. Eine Pekinger
Schauspielerin, Qin Xuefang, spielt z.B. die Szene, wie eine Frau ins Kloster
geht, wie ihr die Haare abgeschnitten werden, und wie sie, als sie ihre schönen
langen Haare abgeschnitten in der Hand hält, allmählich zur Erkenntnis des
furchtbaren Abschieds kommt, den sie nun von der Welt genommen hat, mit solcher
Größe, dass auch im chinesischen Theater die Augen der Hörer feucht werden
und alles ganz still und aufmerksam wird, was um so mehr bedeuten will, als im
chinesischen Theater, ähnlich wie in den südeuropäischen Theatern, das
Publikum keineswegs die ernste Spannung kennt, die bei uns üblich ist, sondern
beliebig plaudert, raucht und Tee trinkt. Dazwischen gehen Verkäufer mit
Erfrischungen; heiße feuchte Tücher werden angeboten, die namentlich im Sommer
sehr angenehm zum Abwischen des Gesichts sind. Aber dieses bunte Leben schweigt
immer dann, wenn ganz große Kunst die Herzen rührt, und solche Augenblicke
wirken dann besonders stark.
Die Schauspieler hatten bis vor kurzem ein ziemlich
verachtetes Dasein. Erst in letzter Zeit, seit es gebildete Leute unter ihnen
gibt, beginnen sie auch als Künstler geschätzt zu werden. Die Berühmten
beziehen gegenwärtig auch fürstliche Gehälter.
Es ist nicht selten, dass ein Stern für einen einzigen
Abend zehntausend Dollar bekommt. Außerdem haben namentlich die
Schauspielerinnen zur Ausstattung der Bühne eigene Vorhänge, Polster und
Tischdecken, die ihnen von begeisterten Verehrern gestiftet sind. Dennoch ist es
sehr selten, dass die Schauspieler größere Vermögen ansammeln. Die Spesen
sind zu groß; die kostbaren, seidenen, gestickten Gewänder müssen alle aus
eigener Kasse angeschafft, Diener und Gehilfen müssen bezahlt werden, und die
bekannteren Größen haben auch ein eigenes kleines Orchester zu ihrer
Begleitung.
Das Theater galt früher in China wohl als
Volksbelustigung, nicht aber als eine ernste Sache. Auch die ganze dramatische
Literatur, die sehr bedeutende Reichtümer enthält, wurde nicht als vollwertige
Literatur anerkannt. Das hat sich jetzt geändert. Das Theater ist heute Gesprächsthema
in der großstädtischen Gesellschaft Chinas. Man hört die großen Künstler
mit ungeheurer Ausdauer. Denn da jeden Abend erst die geringeren Kräfte
auftreten, ist es selten vor Mitternacht, dass man die eigentlichen Sterne zu
sehen bekommt.
In Europa kennt man japanische Schauspielerinnen, aber die chinesische Theaterkunst ist noch völlig unbekannt. Das chinesische Drama ist jedoch in einer Entwicklung begriffen, die hoffen läßt, dass auch von hier aus der europäischen Kunst noch wertvolle Anregungen zufließen werden.